Wichtig ist, aus der Opferrolle rauszukommen

Mit Stress und Prüfungsangst quälen sich viele Studierende.


Interview mit dem Psychologen und Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert. Er leitet die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin. Rückert ist zudem Autor des Buches "Schluss mit dem ewigen Aufschieben" (Campus, Frankfurt / M. 2006, 17,90 Euro).

Wann haben Menschen Prüfungsangst, wann nicht?
Das kann man nicht über einen Kamm scheren. Grundsätzlich gibt es eine Angst vor Bewertung und eine Scham, bloß gestellt zu werden in einer Prüfung. Wenn man aber zum Beispiel in der Lage ist, Erfolg und Selbstwertgefühl voneinander zu lösen, erleichtert das schon sehr viel.

Was zeichnet Prüfungsangst aus?
Wir unterscheiden zwei Komponenten: Einerseits die mentale Seite. Da läuft dann ein Horrordrehbuch im Kopf ab, was so alles schief gehen könnte in der Prüfung. Und diese Vorstellungen gehen andererseits einher mit physischen Begleiterscheinungen: Schweiß, erhöhter Herzschlag, versagende Stimme. Und die körperlichen Reaktionen haben wieder Folgen für die mentale Seite. Ein negativer Strudel setzt ein. Feuchte Hände, trockene Kehle etc. sind Anlass für weitere negative Kognitionen. Das Horrorszenario kann weiter getrieben werden bis zu einer Dämonisierung der Prüfenden und zu den Abgründen, die sich nach einem Scheitern auftun.

Wie könnte es anders aussehen?
Indem man die Vorzeichen umkehrt, sich ein realistisches, optimistisches Drehbuch ausmalt: wenn man sich die Prüfung zum Beispiel als kommunikative Situation vorstellt, dass da jemand sitzt, der einem endlich mal zuhört.

Wobei der Jemand nicht Freundin oder Freund ist sondern Entscheidungsgewalt hat.
Ja, klar – der Dialog ist asymmetrisch. Das sollte man nicht ganz außer acht lassen. Denn wenn man in die Prüfung wie in einen Bäckerladen reingeht und auf supercool macht, ist das respektlos. Das kommt dann bei den Prüfern nicht so gut an.

Was ist denn normal?
Ein gewisses Maß an Nervosität wird allgemein erwartet. Es fördert im übrigen auch die Konzentration. Das ist vergleichbar mit dem Lampenfieber beim Schauspieler.

Wie verbreitet ist Prüfungsangst?
Sehr verbreitet. Es ist schwer zu unterscheiden zwischen pathologischer und normaler Prüfungsangst. Grundsätzlich gibt es wahrscheinlich auch eine genetische Komponente bei der Angstbereitschaft. Aber bei 30 bis 50 Prozent kann man sicher von Prüfungsangst sprechen; wobei ich da unterscheiden würde zwischen einer realen Angst bei den Studenten, die tatsächlich nichts drauf haben, weil sie nicht gelernt haben und denen, die ausschließlich auf die kognitive Seite gesetzt haben, sich aber um die mentale und körperliche Vorbereitung gar nicht gekümmert haben.

Wie sieht die aus, die mental-körperliche Vorbereitung?
Körperlich kann ich Muskelentspannung trainieren. Da gibt es relativ einfach zu erlernende Verfahren, wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen. Zur mentalen Vorbereitung ist es sinnvoll, mögliche Situationen in der Prüfung durchzuspielen: dass man nach einem Glas Wasser fragt, wenn der Hals plötzlich trocken wird oder man darum bittet, das Fenster zu schließen, wenn draußen auf einmal ein Presslufthammer losballert.

Also in der Lage ist, sich sozial einzubringen.
Ja, ganz wichtig. Man sollte nicht dem Irrglauben anhängen, dass man in einer Prüfung immerzu funktionstüchtig zu sein hat. Man sollte sich auch klarmachen, dass Hilfsbedürftigkeit fast nie auf Ablehnung oder Unverständnis stößt sondern Sympathie weckt.

Ganz ausgekochte Strategen könnten das ja auch ausnutzen.
Na und? Das halte ich für legitim. Man kann doch mit der Situation spielerisch umgehen.

Sie plädieren also für Eigeninitiative?
Unbedingt. Wichtig ist, aus der Opferrolle rauszukommen, in die man sich strukturell durch die asymmetrische Prüfungskommunikation schnell versetzt sehen kann. Man sollte auf keinen Fall wie ein Kaninchen vor der Schlange dasitzen.

Wie sieht es bei schriftlichen Prüfungen aus?
Da fehlt in der Regel die auf den Anderen bezogene Angst und es geht es mehr um die Frage, ob man selbst funktionieren wird, beispielsweise mit der zur Verfügung stehenden Zeit auskommen wird, eine vernünftige Gliederung einhalten kann und solche Dinge. Grundsätzlich scheint es jedenfalls so zu sein, dass schriftliche Prüfungen nicht soviel Angst auslösen.

Warum?
Die unmittelbare Beschämungsdrohung fehlt.

Ist Prüfungsangst bei Lehramtsstudierenden besonders verbreitet?
Die Lehramtsausbildung enthält natürlich strukturell mehr Gründe, um Angst zu haben. Das Auftreten vor Schülern in einer Klasse ist für viele Studierende sehr mit Angst besetzt. Man wird dann ja auch ständig geprüft. Im Referendariat wird das dann noch persönlicher.

Haben Sie Empfehlungen für Lehramtsstudierende?
Sie sollten selbst Entspannungstechniken lernen, zusehen, dass sie ihre soziale Kompetenz erhöhen und sich gegenseitig Hilfe geben – etwa in Supervisionsgruppen.

Wann ist externe Hilfe gefragt?
Sicherlich immer dann, wenn trotz erlerntem Entspannungsverfahren und kollegialer Unterstützung der Angstpegel nicht runter geht. Die Beratungsstellen der Universitäten verfügen meistens über ein Gruppenangebot. Da übt man ein Semester lang, sich vor Gruppen zu verhalten, zu agieren, zu sprechen etc. Wenn das immer noch nicht helfen sollte, gibt es noch die Einzeltherapie, die zum Üben natürlich weniger geeignet ist als die Gruppensituation.

Was halten Sie von natürlichen Mitteln wie Nüssen und Ginkgo oder chemischen wie Tranquilizern und Amphetaminen?
Gleich, ob man auf natürliche oder chemische Produkte setzt: Wichtig ist, dass man sich daran gewöhnt. Wenigstens ein halbes Jahr vor der Prüfung sollte man anfangen, die Effekte solcher Mittel auszuprobieren.

Ein großes Thema ist der Blackout.
Das Phänomen ist auch bei Prüfern gefürchtet. Es tritt aber selten auf. Meistens hat er auch eine gewisse Vorlaufzeit sich aufschaukelnder Erregung. Der Blackout überfällt einen also nicht wie ein Blitzschlag. Deswegen kommt es darauf an, entsprechende Signale zu erkennen und das dann zu kommunizieren: Fenster auf, Schluck Wasser, Frage wiederholen etc.

Das wäre dann wieder eine Frage der mentalen Vorbereitung.
Für unser Gehirn ist es nun einmal gleich, ob Traum, Film, Spiel oder Realität. Die beteiligten Gehirnareale sind immer dieselben. Deswegen wird aus einer spielerisch angelegten Trainingssituation emotional auch schnell Ernst.

Was zeichnet Stress im Unterschied zur Angst aus?
Angst hat was scharf Akzentuiertes. Stress heißt nun einmal permanente Belastung, bei der das Hormon Cortisol produziert wird. Meistens wird andauernder Stress als negative Belastung empfunden.

Was tun?
Geeignete Lebensführung. Den Stresspegel durch Sport und Freizeitgestaltung senken – also sein Leben fraktionieren, um den Tunnelblick zu vermeiden.

Wie Angst kann Stress positive Wirkungen haben.
Wie bei Astronauten, die trotz Höchstmaß an Belastung gut drauf sind. Dann spricht man von Eu-Stress.

Es käme also darauf an, eine Strategie zu finden, mit der man Stress in Eu-Stress umwandeln könnte?
Das wäre natürlich ideal. Sehr viel gewonnen ist schon dadurch, wenn man sich des Zwanghaften entledigt, wenn man sich also sagt, dass man es nicht machen muss, dass man es auch sein lassen kann; dass man sich also vor Augen führt, dass man das jetzt will, dass das eine eigene Entscheidung ist. Diese Technik ist sehr wirksam. Man nennt sie Reframing - also wenn man dem Ganzen einen neuen, entspannteren Rahmen gibt.

Das Gespräch hat Christoph Oellers geführt.