Bildung in Bayern – Vorstellung und Wirklichkeit

Ein Kommentar von Simon Kratzer, 2. Vorsitzender der Studierenden im BLLV, zur Konzeption des Lehramtsstudiums aus der Sicht eines Studierenden

Bildung ist ein Menschenrecht und der Schlüssel zu individueller und gesellschaftlicher Entwicklung. Sie befähigt Menschen dazu, ihre Persönlichkeit zu entfalten und ein erfülltes Leben zu führen. Bildung stärkt Demokratie, fördert Toleranz und eine weltbürgerliche Haltung. Zugleich ist Bildung Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen, mit Wandel und Risiken umzugehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Damit Bildung ihr Potenzial entfalten kann, muss sie hochwertig, inklusiv und chancengerecht sein (nach der Definition der Deutschen UNESCO-Kommission).

Was ist eigentlich Bildung und wie können Schüler*innen bestmögliche Bildung erhalten? Ist Inklusion als Leitgedanke dabei das Ziel oder nur als eine idealisierte Wunschvorstellung?

Als Student des Lehramts an Mittelschulen fällt mir auf: Bis zum ersten Staatsexamen ist dies ausschließlich theoretisch aufgebaut. Allein dies sagt schon vieles aus. Theoretisch lernen wir sehr viel: In Geschichte alle Zeiten und historischen Eckdaten, die dann in Klausuren und Hausarbeiten abgefragt werden. In Deutsch alles über Grammatik, Rechtschreibung, Morpheme und Phoneme usw., in Sozialkunde alle didaktischen Modelle, sowie alle dazugehörigen Didaktiker. Zweifelsohne interessant, aber ist das auch in diesem Umfang nötig für eine zukünftige Lehrkraft? Was hilft mir das Wissen über den deutschen Philosophen Adorno und seine theoretischen Konzepte, wenn diese nicht praxisorientiert im Studium angewendet werden?

Dazu bräuchte man an allen Universitäten Didaktik-Dozenten, die selbst Lehramt studiert haben. Leider eine Wunschvorstellung! Im dritten Semester stelle ich mir oft die Frage: Wie kann ich das umsetzen? Werden durch dieses Konzept alle Schüler*innen gleichberechtigt beteiligt und nicht nur die leistungsstarken? Bereitet uns dieses Studium wirklich auf unsere zukünftigen Aufgaben vor? Manchmal komme ich mir vor wie ein Elektriker, der am Ende seiner Ausbildung keine Steckdose einbauen kann, jedoch alle Einzelteile kennt und mit Fachbegriffen benennen kann.

Um das Studium zu reformieren und zukunftsorientiert auf eine immer wieder verändernde Gesellschaft auszurichten, bräuchten die Lehrkräfte andere Kompetenzen, die im Studium vermittelt werden sollten.

Zukunftskompetenz

Eine sich stetig verändernde Gesellschaft verlangt es, dass die Lehrkräfte jederzeit auf die Heterogenität der Schülerschaft Rücksicht nehmen können. Es braucht also Kompetenzen, die die Lehrkräfte befähigen, beruflich mit den sich verändernden Bedingungen zurecht zu kommen. Wie kann der Unterricht zukunftsbezogen ausgerichtet werden?

Prüfungskompetenz/Bewertungskompetenz

Wie bewerte ich als Lehrkraft Schulaufgaben, das Abitur und bezogen auf die Mittelschule die unterschiedlichen Abschlüsse wie den Qualifizierenden Mittelschulabschluss, die Mittlere Reife, und den erfolgreichen Abschluss der Mittelschule. Auch wie bewerte ich diese, wenn ich Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf habe oder wie erstelle ich Aufgaben und nach welchen Kriterien bewerte ich die heterogene Schülerschaft. Hier frage ich mich tatsächlich: Ist Bewertung wie sie in unserem Schulsystem derzeit gehandhabt wird überhaupt noch zeitgemäß? Gibt es alternative Formen der Bewertung?

Umsetzungskompetenz

Den Lehrkräften fehlen im Allgemeinen praktische Kompetenzen, die sie später den Schüler*innen beibringen sollten. Durch welches Unterrichtsmodell gestalte ich meinen Unterricht (z.B. Churer Modell)? Wie schaffe ich es, alle Schüler*innen zu erreichen und sie für das Unterrichtsgeschehen zu begeistern?

Organisationskompetenz

Im Studium fehlen deutliche Informationen darüber wie Zula (Zulassungsarbeit) und Stex (Staatsexamen) ablaufen. Auch wie das Ref (Referendariat) funktioniert, ist sehr lange nicht klar. Ebenso gibt es keine Empfehlungen oder Anleitungen, wie man sich als Lehrkraft organisiert: Elterngespräche, Gespräche mit MSD / Sozialhelfern / Kollegen / Schulleitung, Vorbereitung von Klausuren, Unterrichtsvorbereitung, Bewertung von Abschlussprüfungen und das alles gleichzeitig.

Digitalisierungskompetenz

Wie gehe ich mit KI um und wie kann ich diese kontrolliert und schülerorientiert im Unterricht einsetzten? Wie kann ich Apps und digitale Plattformen im Unterricht anwenden und gemeinsam mit den Schülern digitale Projekte realisieren? Was muss ich dabei hinsichtlich des Datenschutzes beachten? Wie kann ich die Schüler*innen vor Datendiebstahl und Cybermobbing sowie Missbrauch im Internet schützen?

Kommunikationskompetenz

Wie kommuniziere ich mit Eltern, Schüler*innen, Schulleitung, Mitarbeiter*innen vom MSD sowie Schulbegleitungen? Wie kommuniziere ich mit Schüler*innen die sonderpädagogischen Förderbedarf haben, Gewalt im Elternhaus erfahren, traumatische Erlebnisse wie Krieg oder Flucht hinter sich haben?

Kriseninterventionskompetenz

Wie handle und reagiere ich psychologisch richtig, wenn ich Schüler*innen habe, die aggressiv sind? Wie gehe ich richtig mit schwierigen Situationen um? Wie behandle ich Themen im Unterricht, die sensibel sind für bestimmte Schüler*innen, bspw. Ukraine Krieg, Krieg im Nahen Osten, Globaler Süden, Sucht und Drogenkonsum?

Demokratisierungskompetenz

Wie schaffe ich es, den mir anvertrauten Schüler*innen Demokratie zu vermitteln? Wie erreiche ich es als Lehrkraft, dass die Schüler*innen den Wert von Demokratie verstehen, akzeptieren und als die bestmögliche Staatsform für sich selbst, auch als die einzig wahre erkennen können?

Diese Kompetenzen werden je nach Universität nur wenig oder gar nicht im Lehramtsstudium behandelt. Wie sollen Lehrkräfte bestmögliche Bildung sicherstellen ohne selbst grundlegende soziale, kommunikative und schülerorientierte Kompetenzen erhalten zu haben?

Ich studiere ganz bewusst Lehramt an Mittelschulen, weil mir Kinder und Jugendliche am Herzen liegen und ich gerade Schüler*innen aus schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen fördern sowie deren Teilhabe und Gleichstellung in der Gesellschaft unterstützen möchte.

Ich wünsche mir, dass im Studium diese bedeutungsvollen Themen gelehrt werden, damit wir Lehramtsstudierende befähigt werden, Bildung in ihrer vielfältigen und tragenden Bedeutung praktisch umzusetzen.

Bleibt zu hoffen, dass da in den verbleibenden Semestern noch etwas kommt...


Der Artikel erschien am 03. Mai 2024 in der Bezirkszeitschrift des BLLV Schwaben.